Diakonie

Diakonisches Werk
im Evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr

Hagdorn 1a
45468 Mülheim         [auf Karte anzeigen]

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Der Wunschjob: irgendwas mit Sucht

Alfred Abresch geht in den Ruhestand, über 20 Jahre leitete er das Ambulatorium

Eigentlich wollte er etwas anderes machen, aber dann kam die Sucht dazwischen. Bei seiner Ausbildung zum Diakon machte Alfred Abresch ein Praktikum in der Suchtabteilung des heutigen Fliedner-Krankenhauses. Diese Zeit beeindruckte ihn so, dass er entschied, neben dem Studium an der Fachhochschule in diesem Bereich weiterzuarbeiten. So kam er als ehrenamtlicher Mitarbeiter zum Ambulatorium, das damals gerade gegründet wurde. Knapp 40 Jahre begleitete er die Entwicklung der Beratungs- und Behandlungsstelle für Alkohol- oder Medikamentenabhängige sowie Spieler und war über 20 Jahre lang deren Leiter. Nun geht der 64-Jährige in den Ruhestand. Da wird es Zeit, zurückzublicken.


Herr Abresch, ich kann mir vorstellen, dass Ihr Arbeitsalltag 1975 noch ganz anders aussah…

Ich habe damals in der Zeitung gelesen, dass das Ambulatorium gegründet wurde. Da stand, die Mülheimer Diakonie startet im Suchtbereich mit einem neuem Modell. Da bin ich gleich zu dem neuen Leiter und habe wegen einer Praktikumsstelle gefragt. Da diese aber schon vergeben war, habe ich als ehrenamtlicher Mitarbeiter angefangen. Damals gab es immer freitags von 17 bis 22 Uhr eine offene Sprechstunde, bei der wir Erst-Kontakte geknüpft und mit den Besuchern etwas unternommen haben, zum Beispiel gebastelt oder gemalt. Jahre später hat sich aus der Besuchergruppe das Blaue Kreuz entwickelt. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter haben sich sehr intensiv um die Betroffenen gekümmert. Ich habe unter anderem auch mal einen Sonntagnachmittag bei einem Klienten verbracht, der gerade entgiftet hatte, um sicherzustellen, dass er das Wochenende trocken übersteht.
Ich konnte dann den Zivildienst im Ambulatorium ableisten und wurde danach als hauptamtlicher Mitarbeiter übernommen. Zu der Zeit wurden die Klienten noch zur stationären Behandlung in die Kliniken gefahren.Die Suchtabteilung war damals die führende Kraft bei den Vormundschaften. Die Geschäftsführung des Vormundschaftsvereins, dem heutigen Betreuungsverein, lag in unserem Aufgabenbereich. Als ich im Ambulatorium angefangen habe, musste ich erst mal 13 Vormundschaften und Pflegschaften übernehmen.

Sie sagen, das Ambulatorium hatte ein „neues Modell“. Was war so neu?
Früher wurden „Trinker“ häufig „eingesperrt“, dies ging bis zu zwei Jahren, berühmt berüchtigt war damals „Brauweiler“. Wenn die Personen entlassen wurden, hatte sich nichts verändert und wenn sie wieder getrunken haben, wurden sie gegebenenfalls wieder „eingesperrt“. Es gab natürlich auch schon die stationäre Behandlung, wie z. B. in Siloah oder im Kamillushaus, da wurde deutlich mehr getan in therapeutischer Hinsicht. Im ambulanten Bereich war dies noch nicht so. Erst 1968 wurde Sucht als Krankheit anerkannt. In den 70ern war die Idee dann, die Alkoholkranken selbstständiger und selbstverantwortlicher zu machen. Der Ansatz des Ambulatoriums war damals schon innovativ. Es wurde eine ambulante Therapie angeboten, als Alternative zur Fachklinik. Wir hatten schon Ende der 1970er eine Ärztin im Team.
Anfang der 90er wurde dann die Ambulante Rehabilitation offiziell eingeführt, da konnten wir mit unserem Konzept schnell einsteigen. Inzwischen gibt es den Ansatz: ambulant vor stationär. Das Problem heute ist aber immer die Finanzierung der Arbeit insgesamt. Niemand fühlt sich wirklich zuständig, die Ambulante Reha und die Beratung kostendeckend zu finanzieren. Damit wäre das Leben wesentlich einfacher.

Aber heute verbringen Sie keinen Sonntagnachmittag mehr bei Ihren Klienten, oder?
Heute läuft alles professioneller – und das heißt auch: distanzierter. Heute sagt man nicht mehr: Die Patienten sind krank und können nichts, sondern es wird Eigeninitiative erwartet. Wir haben eher eine „Komm-Struktur“, die heute teils wieder hinterfragt wird… Aber die persönliche Begleitung außerhalb der offiziellen Stellen gibt es noch: Sie ist weiterhin im ehrenamtlichen Bereich zu finden. Es gibt in Mülheim rund 30 Selbsthilfegruppen. Wer da gut angebunden ist, wird intensiv versorgt.

Sind die Gründe, warum Menschen süchtig werden, heute andere als vor 40 Jahren?
Früher sprach man von Armuts- und später von Wohlstandsalkoholismus. Diesen Vereinfachungen habe ich mich nie anschließen können. Heute wird nicht mehr von einer Ursache ausgegangen, sondern es werden psychische, medizinische und soziale Gründe berücksichtigt. Wenn Menschen mit sich selbst oder ihrem Umfeld nicht klarkommen, sind Suchtmittel in der Lage, die Befindlichkeiten zu ändern. Wer vor einem Geldspielautomaten in der Spielhalle steht, bekommt andere Gefühle, häufig Machtgefühle. Der Versuch, die eigene Situation zu verbessern, bringt dann aber nur kurzfristig etwas. Depressionen und Ängste sind immer im Blickpunkt der Therapie gewesen. Heute ist ein aktuelles Thema die Traumatisierung durch Gewalterfahrungen in der Vorgeschichte, die Klienten versuchen, etwa durch Alkohol, die wiederkehrenden Bilder zu verdrängen.

Die Betreuung von Spielern kam erst in den vergangenen Jahren zum Angebot des Ambulatoriums. Wie hat sich das entwickelt?
Wir haben die Schwierigkeiten der Spieler als Suchtproblematik verstanden und uns im Ambulatorium die Beratung dieser Personengruppe als Aufgabe gestellt. Tatsächlich hat sich die Nachfrage in den letzten Jahren erheblich verstärkt – und viele von den Betroffenen sind noch sehr jung. Wir arbeiten eng mit der Spielerselbsthilfegruppe zusammen, und wir vermitteln in eine spezielle Therapie, ambulant oder stationäre. Wenn die Entwicklung weiter fortschreitet, werden wir im Ambulatorium ein eigenes Therapieangebot machen.

Besonders Alkoholikern gegenüber gibt es viele negative Vorurteile. Hat sich das in den vergangenen Jahren verbessert?
Nein. Wir versuchen seit 40 Jahren, die Vorurteile und das Empfinden der Menschen zu verändern, aber es ist nach wie vor schwer. Für die Betroffenen ist es das Schlimmste, sich auf die Diagnose „Alkoholiker“ einzulassen. Sie wehren sich lange, schämen sich, haben Angst stigmatisiert zu werden. Aber wenn dieser Punkt erreicht ist, ist viel geschafft.
Zugleich gibt es kaum Bereiche, in denen nicht getrunken wird. Es ist schwierig, sich eine alkoholfreie Zone zu schaffen. Für viele Abhängige ist es eine große Hürde zu sagen: Bei mir gibt’s keinen Alkohol mehr.

Nach dem Praktikum waren sie damals so begeistert, dass es „irgendwas mit Sucht“ sein musste. Warum?
Das weiß ich heute auch nicht mehr. Aber ich finde die Arbeit mit den Suchtkranken nach wie vor toll. Man hört so viele Geschichten. Und es sind ganz normale Menschen; die sind nichts Besonderes oder Böses. Zu einigen haben sich fast freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Eine ehemalige Klientin, die ich in meiner Anfangszeit im Ambulatorium kennen gelernt habe, ruft regelmäßig zu meinem Geburtstag an, und ich gratuliere ihr zu ihrem. Man begleitet die Menschen zum Teil sehr lange und ist ihnen verbunden. Viele denken gerne an ihre Zeit im Ambulatorium zurück.
Ich habe in meiner Arbeit oft sehr schnell Erfolgserlebnisse. Teils haben sich die Leute schon nach einer Woche verändert, und nach einem Jahr sind sie in einer ganz anderen Verfassung. 80 Prozent der Personen, die in den letzten Jahren die Ambulante Reha abgeschlossen haben, waren nach einem Jahr noch abstinent.

Und wie gehen Sie mit den übrigen 20 Prozent um?
Ich habe nicht den Anspruch, dass es jemand auf Anhieb schaffen muss. Ich gebe das, was ich geben kann, aber umsetzen muss es letztlich jeder selbst.

Gibt es etwas, wonach Sie süchtig sind?
Früher habe ich immer gesagt: Haribo-Konfekt. Heute heißt das Colorado. Da gibt’s öfter den Kontrollverlust. Ich trinke auch nach wie vor Alkohol und sage, dass ich noch nicht süchtig bin – das habe ich dann noch vor mir.

Was erwartet Sie in Ihrem Ruhestand?
Erst mal will ich ein bisschen Ruhe haben. Aber dann könnte ich mir auch vorstellen, mich wieder ehrenamtlich zu engagieren, zum Beispiel in meiner Gemeinde. Ich möchte auch mehr Zeit mit meinen Kindern und meinem Enkelkind verbringen. Außerdem habe ich eine aktive, lebenslustige Frau zu Hause, für die ich jetzt wieder kochen kann und mit der ich wieder mehr unternehmen möchte.