Diakonie

Diakonisches Werk
im Evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr

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Eine neue Perspektive auf die Inklusion

Der erste Schritt zur Inklusion ist ein Perspektivwechsel. Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann, Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, ist überzeugt: Damit unsere Gesellschaft wirklich inklusiv wird, muss sich der Blick der Gesellschaft auf behinderte Menschen ändern. Der Weg dorthin, das machte sie als Hauptrednerin beim Fachtag Inklusion von Diakonischem Werk und Caritas deutlich, ist noch weit. Doch hat sie auch eine ermutigende Botschaft: In den vergangenen 15 Jahren ist etwas in Bewegung geraten und „da sind wir in kurzer Zeit schon weit gekommen“. Warum es keine Alternative zur Inklusion gibt, erläuterte Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann im Gespräch.

In Ihrem Impulsreferat beim Fachtag Inklusion unter dem Titel „Inklusion von Menschen mit Behinderung als gesellschaftliche Herausforderung“ sind Sie auf die UN-Behindertenrechtskonvention eingegangen und haben Grundlegendes erläutert. Muss man Inklusion immer noch erklären?
Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann: Erklären ist vielleicht das falsche Wort. Aber es ist mir wichtig, deutlich zu machen, dass es mit der UN-Behindertenrechtskonvention ein verbindliches Dokument gibt, das die Bundesregierung und auch die Länder verabschiedet haben. Es ist etwas anderes, ob wir uns auf dieses Übereinkommen beziehen oder auf unsere moralische Überzeugung. Doch ich habe auch den Eindruck, dass es den Perspektivwechsel, von dem ich in meinem Vortrag gesprochen habe, bereits gibt. Als ich 2002 begonnen habe, mich mit Inklusion und der UN-Behindertenrechtskonvention zu befassen, war vielen Menschen die Vorstellung fremd, dass Menschen mit Behinderung ein Recht haben, Eltern zu werden, eigene Kinder zu bekommen. Heute legen Träger Maßnahmen für die Begleitung behinderter Eltern auf. Das ist ein praktisches Beispiel, wo sich dieses Umdenken zeigt und auch, was sich in nur 15 Jahren alles geändert hat.

In der UN-Behindertenrechtskonvention ist von der Diskriminierung durch Barrieren die Rede – gemeint sind damit physische, Orientierungs- und Kommunikationsbarrieren, aber auch „Barrieren in den Köpfen“. Sind Letztere die größten Hindernisse für die Inklusion?
Bis sich die Einstellung der Gesellschaft ändert, dauert es noch. Politisch würde niemand mehr die Inklusion infrage stellen. Schwierig wird es da, wo Menschen persönlich gefordert sind. In der Schule zum Beispiel, wo Eltern Angst haben, dass ein behindertes Kind in der Klasse ein Nachteil für ihr nicht behindertes Kind ist. Oder auch im Freundeskreis, beim Umgang mit Menschen mit herausforderndem Verhalten. Daran können Freundschaften zerbrechen. Wenn man mit Eltern von Kindern mit sichtbarer Behinderung spricht, merkt man, dass sie sehr leiden unter der öffentlichen Wahrnehmung, unter dem ständigen Mitleid, das ihnen entgegenschlägt und unter einem scheinbaren Rechtfertigungsdruck, weil sie ein behindertes Kind haben – wo sich das doch heute verhindern lässt. Das sind die Barrieren in den Köpfen und um diese abzubauen, sind wir alle gefordert.

Sie haben die Schule erwähnt. Vielen Menschen begegnet die Inklusion derzeit vor allen in diesem Rahmen und in der kritisch geführten öffentlichen Situation darüber. Glauben Sie, dass das der Inklusion insgesamt schadet?
Die Inklusion hat dadurch ein Negativimage bekommen. Es sind bei der Einführung der Inklusion an Schulen Fehler gemacht worden. Aber es geht auch kein Weg daran vorbei – die inklusive Bildung ist eine verbindliche Vorgabe in der Konvention, die muss umgesetzt werden. Auch wenn es noch dauert, ich bin überzeugt, dass die Inklusion auch in der Schule akzeptiert werden wird. Meine Nichten sind in Italien aufgewachsen und zur Schule gegangen. Dort gibt es die Inklusion seit den Siebzigerjahren und niemand würde das gemeinsame Lernen von Behinderten und nicht Behinderten infrage stellen, weil das über Jahrzehnte gewachsen ist. Dies zeigt, dass es funktioniert – aber es funktioniert nicht, in einem einseitig auf Leistung fokussierten Schulsystem. Und da muss man sich fragen, welches Ziel Schule hat: Geht es darum, möglichst viele Leistungsträger auf den Arbeitsmarkt zu werfen oder geht es auch um Persönlichkeitsbildung und die Vermittelung von sozialen Fähigkeiten. Wenn es auch darum geht, ist die Inklusion der richtige Weg.

In Ihrem Vortrag haben Sie die Theorie vorgestellt, dass bei der Anerkennung gleicher Rechte für behinderte Menschen drei Dimensionen beachten werden müssen, um letztlich auch drei Dinge zu stärken: Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Vor allem das Selbstwertgefühl haben Sie als „extrem wichtig“ bezeichnet. Warum?
Weil jeder Mensch die Erfahrung von Anerkennung braucht. Wer immer wieder mit dem Rollstuhl vor einer Treppe steht, bekommt immer wieder einen Schlag auf seine Selbstachtung. Wenn jemand immer abschätzende Blicke erfährt, wenn sie oder er immer Aufmerksamkeit auf sich zieht leidet das Selbstwertgefühl. Wir alle brauchen die Anerkennung, dass wir richtig sind, so wie wir sind – immer wieder. Dazu gehört die gemeinsame Orientierung an Werten in der kulturellen Sphäre. Ein Beispiel dafür ist das Fernsehen: Wenn ich als behinderter Mensch da immer nur nicht behinderte Menschen sehe, bekomme ich keine positive Identifikation angeboten. Inzwischen merkt man aber auch, dass sich dort etwas tut. Die Präsenz Behinderter in den Medien nimmt zu. Der Anfang war in den Siebzigerjahren die Serie „Unser Walter“, die die Geschichte eines Jungen mit Down-Syndrom und vor allem seiner Familie erzählte. Da stand noch das Mitleid im Vordergrund. Heute ist das anders: Da bekommt etwa die Schauspielerin Nele Winkler von integrativen Theater RambaZamba auch Fernsehrollen angeboten.

Sie haben berichtet, dass Ihnen beim Gespräch über Inklusion oft ein „Aber“ begegnet: „Eigentlich ist Inklusion wichtig, aber…“.  Von Bildungs- und Sozialpolitikern kommen etwa Bedenken und Kritik, aber auch aus der Bevölkerung. Was würden Sie diesem Aber entgegensetzen?
Ehrlichkeit. Wir müssen Fakten ehrlich benennen und dazu gehört unter anderem auch, dass Inklusion an bestimmten Stellen Geld kosten wird. Aber wir sind ein reiches Land und da sollen wir es uns leisten, in eine inklusive Zukunft zu investieren.


ZUR PERSON
Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann ist Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Sie hat Biologie (Hauptfach Humangenetik) und Philosophie studiert. Wissenschaftsethische Fragen haben sie von Beginn an beschäftigt und bilden bis heute einen Schwerpunkt ihrer Forschung und Lehre. Weitere sind „Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit mit Blick auf benachteiligte Menschen“. Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann ist etwa seit 2004 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer. Seit 2009 gehört sie der Gendiagnostikkommission der Bundesregierung und seit April 2016 dem Deutschen Ethikrat an.